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Leseprobe aus dem Roman »Nadelstiche«
von Dorothea Rothenfels
Kapitel 6

 

Der Hammer in der Hose

Endlich Ferien! Wie jedes Jahr war Sylvias Zeugnis durch zwei hässliche Vierer in Musik und Turnen verunstaltet. Allerdings hätte sie dafür, dass sie nun den Lehrer Bauer für immer los war, viel schlechtere Noten in Kauf genommen. Schließlich behauptete Peter, das würde im Gymnasium niemanden mehr interessieren.

Noch am vorletzten Schultag hatte der Bauer sie geärgert. Als Sylvia die ausgeliehenen Bücher zurückbrachte, hatte er in seiner Liste nachgesehen und behauptet, sie hätte noch eines zu Hause. »Inge auf dem Dorf«, sollte es heißen. Sylvia konnte sich dunkel an den Titel erinnern. Sie hatte das Buch vor langer Zeit ausgeliehen und ganz bestimmt zurückgegeben. Ganz bestimmt! Der Lehrer hatte kopfschüttelnd den Eintrag durchgestrichen. Dabei hatte er ein Gesicht gemacht als wenn er ihr nicht glaubte. Als ob sie lügen würde! Aber er war ja immer ungerecht zu ihr gewesen.

Am ersten Ferientag sortierte sie ihre Schusser. Natürlich musste dabei ausgerechnet die bunte Glaskugel vom Tisch und unter den Schrank rollen.

Sie kniete auf dem Boden und versuchte, unter den Schrank zu schauen. Von der Murmel war nichts zu sehen. Eine andere hätte sie liegen lassen, aber ihre allerschönste, um die sie von Walli so beneidet wurde? Also legte sie sich auf den Bauch und schob den ganzen linken Arm unter den Schrank. Mit den Fingerspitzen ertastete sie etwas Flaches, Eckiges. Was das wohl war? So fest es in der unbequemen Lage ging, stieß sie dagegen. Zusammen mit der Murmel schoss ein Buch unter dem Schrank hervor. Komisch, sie vermisste doch gar keines. Mit diesem Gedanken drehte sie es um und starrte fassungslos auf den Titel. »Inge auf dem Dorf« stand da.

Irgendwann musste sie das Buch versteckt haben. Dann hatte sie es vergessen. Nachdenklich blätterte sie die hinteren Seiten auf. Der Text kam ihr bekannt vor. Ausgelesen hatte sie es jedenfalls. Es war langweilig, etwas für kleine Kinder. Was sollte sie jetzt damit anfangen? Sie konnte es doch nicht in die Schule bringen, als wenn gar nichts wäre. Behalten durfte sie es erst recht nicht, da würden die Eltern schimpfen. Warum hatte bloß der Lehrer nicht früher danach gefragt.

Seufzend legte sie es wieder zurück, nicht so weit wie vorher, aber doch so, dass es nicht unter dem Schrank hervorschaute. Die Murmel warf sie in den Beutel zu den anderen, dann ging sie Peter suchen. Vielleicht hatte der eine Idee.

Sie fand ihn in der Garage an der Werkbank. Er schob gerade eine Handvoll Nägel in die Hosentasche. »Gut dass du kommst«, sagte er und drückte Sylvia eine Beißzange in die Hand: »Die kannst du in die Schürzentasche stecken.« Sylvia gehorchte. Dann fragte sie: »Wieso?«

Peter baute wieder mal eine Hütte im Wald. Er baute jeden Sommer mindestens eine. Bis jetzt war noch keine fertig geworden, aber das störte ihn nicht. Er war immer solange mit Eifer dabei, bis ihm etwas Interessanteres einfiel. Das Werkzeug musste er heimlich mitnehmen. Der Vater hätte verboten, dass Peter die teueren Sachen in den Wald schleppte. Schließlich wusste man nie, ob er sie wiederbrachte.

Diesmal durfte Sylvia mitmachen. Mit stolz erhobenem Kopf ging sie neben ihrem Bruder. Die Schürze hing schief, und die Zange schlug ihr bei jedem Schritt gegen den Schenkel. Wenn jemand gefragt hätte, was sie Schweres in der Tasche hatte, hätte sie keine Antwort gewusst. Aber niemand achtete auf sie. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, nahm sie die Zange in die Hand. So ließ sie sich leichter tragen. Peter zog einen Plastikbeutel aus der Hosentasche und einen Hammer. »Gib her«, sagte er.

Sylvia war verblüfft. Peter schleppte immer alles mögliche in der Hosentasche mit sich herum. Aber diesmal hatte er sich selbst übertroffen. »Mensch, wie hast'n du den Hammer in der Hosentasche untergebracht?« Er grinste. »Das tätest'de halt gern wissen, aber ich habe noch viel mehr in der Hose.«

»Ich weiß, die Nägel und ein Taschenmesser und ...«

»Und noch was ganz Großes.«

»Ach ja, was denn?«

»Das zeige ich dir nachher, im Wald«, sagte er in so einem endgültigen Ton, dass Sylvia nicht weiter fragte.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sylvia grübelte, was er wohl gemeint haben könnte. Sie hatte eine undeutliche Idee, aber sie konnte es nicht richtig benennen. Davon reden wollte sie lieber nicht. Wenn sie Unrecht hatte, würde Peter sie nur auslachen. Außerdem, da war doch noch das Buch.

»Duu ... Peter«,

»Ohjeh, wenn du schon so anfängst.« Seine Stimme klang trotzdem ermutigend.

»So schlimm isses nicht. ... Ich hab bloß noch ein Buch aus der Schule.«

»Wieso, sind die nicht eingesammelt worden?«

»Ja, schon ...« Umständlich erklärte Sylvia, wie sie das Buch erst heute gefunden hatte. »Schlampsau«, kommentierte Peter. Sylvia senkte den Kopf. Er hatte Recht, aber was half das.

»Jetzt musst du's halt wieder hintragen«, fuhr er nach einer Weile fort. Sylvia seufzte. Begriff er denn das Problem nicht? »Am besten gehst du gleich morgen hin. Da ist der Bauer in Hofstadt auf'm Amt. Die Frau Bauer weiß doch nix davon. Der sagst du einfach, du musst noch ein Buch bringen, fertig.« Sylvia nickte. Sie hatte gehofft, dass Peter ihr den schweren Gang abnehmen würde. Ob sie die Rudolff-Oma bitten sollte? Aber dann musste sie erklären, wo sie das Buch gefunden hatte, und das gäbe Ärger.

»Mensch, das ist doch nicht schlimm. Sei froh, dass der Bauer morgen nicht da ist.«

Sylvia seufzte: »Ich sag' doch gar nichts.«

»Aber ein Gesicht machst du, da kann einem schlecht werden. ... Und frag bloß nicht die Oma. Die macht bloß einen Riesen-Aufstand.«

»Ja«, sagte Sylvia, »ich geh morgen hin.« Vielleicht machte ja Hans auf, wenn sie klingelte. Oder niemand, dann konnte sie das Buch durch den Briefschlitz werfen. Bestimmt würden Hans und seine Mutter mit in die Stadt fahren. Langsam besserte sich ihre Stimmung.

Peter kümmerte sich nicht mehr um sie. Er musste auf die Umgebung achten. Gleich hinter dem Waldrand waren sie vom Fahrweg abgebogen und ein Stück quer durch den Buchenwald gegangen. Jetzt folgten sie einem Bach, den Peter mit einem großen Schritt überquerte, als sie an ein Wildgatter stießen. Sylvia sah sich unsicher um. Normalerweise floss hier nur ein Rinnsal, das auch sie mit einem Schritt überqueren konnte. Aber durch den vielen Regen war es zu einem richtigen Bächlein angeschwollen. Was sollte sie machen, wenn sie drüben abrutschte und ihre Schuhe mit Wasser füllte? Peter könnte ihr doch wirklich hinüberhelfen. Ob er wütend auf sie war, weil sie sich mit dem Buch so angestellt hatte? Endlich fand sie eine Stelle, die ein wenig schmaler schien. Sie holte tief Luft und sprang. Gott sei Dank war sie nicht ins Wasser getreten.

Peter stand an einem Baum. Sie drehte ihm den Rücken zu, bis sie hinter sich Äste knacken hörte. Als sie sich umdrehte, zog er gerade seine Hose straff. Ungeduldig mahnte er: »Wenn du dich ein bisschen beeilen würdest, wären wir gleich da.«

Sie mussten nur noch durch ein Fichtendickicht. Außer ein paar geknickten Zweigen deutete nichts auf einen Trampelpfad hin. Sylvia schützte ihr Gesicht mit einem Arm, mit der anderen Hand schob sie die Zweige, die so gemein kratzen konnten, beiseite. Größere Äste hielt Peter für sie. Es waren nur wenige Baumreihen, bis sich der Wald zu einer winzigen Lichtung öffnete. Peter hatte schon ein paar Bretter und alte Kartoffelsäcke hergebracht.

»Na, was sagst du dazu?« Sylvia begriff, dass er nur den Platz meinen konnte. »Toll«, antwortete sie, »ich tät' da nie mehr herfinden.« Diesmal lachte er sie nicht aus. »Da kommt auch sonst keiner vorbei. Wenn wir den Zugang noch ein bisschen tarnen, kommt kein Mensch auf die Idee, dass wir da eine Hütte haben.« Sylvia betrachtete misstrauisch den kleinen Bretterstapel. Wie er daraus wohl eine Hütte konstruieren wollte? Zuerst mal ließ er sich vorsichtig darauf nieder: »Weißt du, wo der Hammer war?«

»Nee, Sag's halt.« Sylvia überlegte, ob sie sich neben ihn setzen sollte. Die Bretter sahen noch ziemlich feucht aus. Wahrscheinlich würde die Nässe durch ihren dünnen Rock dringen. Sie bereute sowieso, dass sie nur Kniestrümpfe statt einer Strumpfhose anhatte. Auch Peter wurde es zu ungemütlich. Mit einem leisen Ächzen stand er wieder auf.

Als er den Reißverschluß am Hosenschlitz aufzog, wandte sie sich ab. »Eh ... du willst doch sehen, wo der Hammer war«, lachte er. Wenn er sie so direkt dazu aufforderte, durfte sie hinschauen. Er hatte eine Hosentasche durch den Schlitz nach außen gestülpt. Das Loch ganz unten in der Tasche war gerade groß genug, dass er zwei Finger durchzwängen konnte. »Ach so, durch das Loch hast du den Griff gesteckt.« Peter lachte. Was hatte sie denn jetzt schon wieder etwas Falsches gesagt?

»Ein Hammer hat einen Stiel, keinen Griff«, korrigierte er. »Aber ich zeig' dir einen richtigen Griff, da darfst du mal hinfassen.« Ehe sie wegsehen konnte, hatte er sein Glied aus dem Schlitz der Unterhose gezogen.

Jetzt musste sie entgeistert hinstarren. Das sah so anders aus als sie es in Erinnerung hatte. Steif und selbstständig stand es vor dem Jungen. Durch das Herauszwängen war es ins Wippen geraten, was den unnatürlichen Eindruck noch verstärkte.

Peter sah zufrieden an sich hinunter: »Ist doch schön, ne.« Sie konnte nicht antworten. »Willst du mal hinfassen?«

Sylvia hob schon die Hand. Als ihr einfiel, dass er gerade damit gepinkelt hatte, zuckte sie zurück. Jetzt packte Peter das Ding selber an. Mit hastigen Bewegungen fing er an zu pumpen. Jedenfalls sah es so aus. Sie stand immer noch gaffend daneben. Das hektische Getue schien ihm zu gefallen, trotzdem hörte er gleich wieder auf: »Komm mach mal.« Er nahm ihre Linke, die sie zögernd gehoben hatte, und legte sie um das Glied. Sie hatte nicht erwartet, dass es so warm und weich war. Erst als er ihre Hand fester zudrückte, spürte sie das Harte. Er ließ los. Vorsichtig bewegte sie ihre Hand. Die weiche Haut am Glied bewegte sich mit, nur das Harte blieb stehen. Ob sie zu locker hinlangte, zu langsam war?

Gerade als sie fragen wollte, seufzte er: »Schöön, du machst das wirklich gut.« Sylvia atmete unhörbar auf. Vorsichtig machte sie weiter, immer darauf bedacht, nicht ganz vorn hinzufassen, dorthin, wo das Pippi rauskam.

Peter hatte doch sonst so spannende Spielideen, aber diesmal hatte er sich etwas besonders Langweiliges ausgedacht. Sie wollte wissen, wann sie aufhören durfte, aber wie sollte sie das ausdrücken. Wenn sie etwas Ungeschicktes sagte, würde er wieder lachen. So wie über den Hammergriff. Dabei wusste sie doch, dass zum Hammer ein Stiel und kein Griff gehörte. Sie hatte sich nur geärgert, dass sie nicht selbst an ein Loch in der Tasche gedacht hatte. Und wenn sie sich ärgerte, sagte sie halt manchmal dummes Zeug.

Jetzt wollte sie nicht schon wieder zeigen, wie wenig sie wusste. Irgendwann würde er schon von sich aus erklären, was das Ganze sollte. Peter schien ihre Frage erraten zu haben. »Eigentlich müsste ich den bei einer Frau unten reinstecken«, erklärte er, »aber du bist noch zu klein dazu. ... Weil, dann kannst du ein Kind kriegen.«

»Ja, aber da kommt doch gar nichts raus.« Dass ein Mann Samen in den Bauch der Frau tun musste, damit die ein Kind kriegen konnte, das wusste auch Sylvia. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, das geschehe, wenn ein Mann und eine Frau sich sehr lieb hätten. Wie sie das machten, hatte sie nicht gesagt.

Statt einer Antwort schob Peter ihre Hand weg und drehte sich um. Er wollte doch nicht schon wieder pinkeln? Er hatte ihr den Rücken halb zugekehrt. So hektisch wie am Anfang machte er weiter. Sylvia wusste nicht so recht, wo sie hinschauen sollte. Er war zu sehr mit sich beschäftigt, um ihr Anweisungen zu geben. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihn. Jetzt kam ein Strahl aus dem Glied, und noch einer, dann tropfte es noch ein bisschen. Er wischte mit der Hand darüber, ehe er alles in der Hose verpackte. »So«, sagte er zufrieden, »der Samen kommt immer zum Schluss.« Dabei riss er einen Büschel Gras aus, mit dem er sich die Hände abwischte.

Sylvia grübelte darüber nach, wie das alles zusammenpasste. Dass man ein steifes Ding besser in ein Loch stecken konnte als ein schlaffes, war klar. Aber warum musste es denn so groß sein? Oder noch größer? Da war immerhin noch Richard, der immer behauptete, dass er einen größeren hätte als Peter. Der wurde dann immer so wütend.

Sylvia hatte sich nie erkundigt, was ihre Brüder meinten. Sie hatte geahnt, dass es eklig war. Wie tief die das wohl reinsteckten? Das musste doch weh tun. Und wie hing das mit dem Liebhaben zusammen?

Derweilen betrachtete Peter voller Abscheu den Bretterhaufen. Zum Arbeiten hatte er jetzt überhaupt keine Lust. Er wickelte die Werkzeuge fest in den Beutel und schob sie unter die Säcke. »Komm, wir gehen auf den Hochsitz«, schlug er vor. »Zum Bauen ist es heute zu nass.«

Sylvia hätte gern begeistert zugestimmt. Aber was sollte aus dem Werkzeug werden? »Du kannst doch die Sachen nicht einfach da lassen, da schimpft der Papa.«

»Ach Schmarrn, bis der das merkt, tue ich sie wieder zurück.« Sylvia warf dem Haufen Säcke noch einen bangen Blick zu, dann folgte sie eilig ihrem Bruder. Allein würde sie nie mehr aus dem Wald herausfinden.

Als sie unbeschwert nebeneinander gehen konnten, stellte sie ihre Fragen. Sie musste seine gute Laune ausnutzen. Peter lachte nicht. Ernsthaft erklärte er, dass sich der Mann dabei auf die Frau lege. »Ja, und dann steckt der Mann seinen Schwanz ins Loch von der Frau. Das ist eigentlich schon alles.« Das mit dem Liebhaben müsse Sylvia nicht so ernst nehmen, das sage man halt so.

Sylvia dachte an die Raufereien ihrer Brüder. Wer unten lag, hatte verloren: »Ja, aber wieso muss sich denn der Mann auf die Frau drauflegen?«

Peter zuckte die Achseln: »Das ist halt so.«

»Ja, aber geht das nicht auch nebeneinander?«

Diesmal dachte Peter lange nach, auf die Idee war er noch nie gekommen. Schließlich sagte er: »Ja, das geht schon, aber das ist schwierig. Da musst du ganz schön viel können.«

Sie waren beim Hochsitz angekommen. Dort oben war es trocken und gemütlich. Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank und sahen hinaus auf die Felder. Einmal im Frühjahr, als es schon anfing zu dämmern, hatten sie ein Rudel Rehe beim Äsen beobachtet. Aber jetzt, am hellen Nachmittag, war draußen zu viel los, da würde kein Reh sein Versteck verlassen. Deshalb brauchten sie nicht still zu sein. Peter erzählte, was er hier schon alles erlebt hatte. Er hatte nicht nur Rehe gesehen, sondern auch Füchse und Wildschweine. Sylvia wollte gerade sagen, dass sie das nicht glaubte, als er den Finger auf die Lippen legte und auf einen Baum in der Nähe deutete. Sie starrte angestrengt hin. Zuerst sah sie gar nichts, dann wackelten ein paar Blätter, endlich entdeckte sie das Eichhörnchen. Es fühlte sich offensichtlich ganz unbeobachtet. Erst als es im Wald verschwunden war, fragte Sylvia: »Wann war denn das?«

»Im letzten Herbst; im Herbst sieht man immer mehr Wild.«

Sylvia nickt andächtig. Peter wusste alles! Wie hatte sie denken können, dass er nur prahlte.

 

Am nächsten Vormittag klingelte sie mit klopfendem Herzen an der Lehrerwohnung. Peter stand draußen vor der Schule und passte auf, dass sie sich nicht drückte. »Du darfst nicht immer so feig sein«, hatte er ihr eingeschärft. Gerade wollte sie das Buch durch den Briefschlitz stecken, als sie drinnen Schritte hörte. Mist, es war doch jemand zu Hause. Jetzt konnte sie nicht mehr davonrennen. Wenn sie im Treppenhaus gesehen wurde, war sie noch viel blamierter. »Ja, Grüß Gott Sylvia, willst du den Hans besuchen?«

Die Frau Bauer war immer freundlich, aber manchmal hatte sie komische Ideen. Mädchen besuchten doch keine Buben! »Nee, äh Grüß Gott«, stotterte Sylvia, »ich soll das Buch da abgeben.«

Ehe die Lehrersfrau noch »Danke« sagen konnte, war Sylvia schon die Treppe hinunter gerannt. Frau Bauer sah ihr kopfschüttelnd nach: »Meine Güte, ist das Kind scheu. Jetzt kann ich ihr nicht einmal ein Bonbon geben.«

Erst vor der Tür konnte Sylvia ihre Heldentat richtig genießen. Beim Mittagessen erzählte sie, dass sie das Buch aus der Schülerbücherei gefunden hatte. Frau Hun schüttelte den Kopf: »Wo hast du denn das wieder versteckt gehabt?«

»Ich hab's schon zurückgetragen«, sagte Sylvia schnell. Sie wollte ihr Versteck nicht verraten.

»Wahrscheinlich hat sie's auf den Mist geworfen«, behauptete Richard.

»Stimmt gar nicht«, Sylvias Stimme wurde schon weinerlich.

Richard setzte noch eins drauf: »Du bist doch im Leben nicht zu dem Bauer gegangen, du traust dich doch nicht einmal in den Schulhof.«

»Nee«, griff Peter ein, »die war wirklich dort.«

»Dann hast halt du's dem Hans gegeben.«

Das war zu viel. Sylvia vergaß, dass sie nicht heulen durfte. Sie war so stolz gewesen, und jetzt glaubte ihr keiner. Prompt fing Herr Hun zu brüllen: »Wenn du nicht sofort aufhörst zu plärren, dann kriegst du einen Grund.« Sylvia biss die Zähne zusammen. Nur einmal schluchzte sie noch. Ihr Vater machte eine heftige Bewegung. Seine Frau legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm: »Nimm dich doch zusammen.«

»Ich sag's ja immer, die wird wie die Alte. Die darf nicht wie die Alte werden.«

Sylvia hätte beinahe noch einmal geschluchzt. So wie die Hun-Oma wollte sie auf keinen Fall werden. Es war schwer aufzuessen, wenn sie dauernd ein Schluchzen unterdrücken musste. Aber wenn sie etwas übrig ließ, gab es noch einmal Ärger. Inzwischen kümmerte sich niemand mehr um sie. Die Buben mussten am Nachmittag am Feld helfen; jetzt redeten sie darüber, was zu tun war.

Als die anderen aus dem Haus waren, tröste Frau Hun ihre Tochter: »Der Papa glaubt dir ja, dass du in der Schule warst. Aber es macht ihn halt ganz verrückt, wenn du so ohne Grund heulst, dann hat er immer Angst, dass du so wirst wie die Hun-Oma. ... Der meint's doch nicht so.«

Sylvia liefen schon wieder Tränen übers Gesicht. Aber wenn der Richard doch gesagt hat, ich hätt's auf'n Mist geschmissen«, schluchzte sie.

 

 

 

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